Eine Nachbarschaft kann eine angenehme und hilfreiche Geschichte sein oder ein ständiges Ärgernis, aber jetzt kann man sie einordnen.
Der entsprechende Tag ist gegeben, nicht selber gewählt, man wird einfach irgendwo geboren und entscheidet man sich nicht für ein Eremiten-Leben, dann stossen während der ganzen Lebensreise immer wieder Nachbar*innen dazu, manchmal erwünscht, gesucht, tragbar und manchmal zu verwünschen. So können Nachbarschaften als soziales System etwas wie ein zusätzliches Zuhause vermitteln und das gesellschaftliche Leben hat einen wohltuenden Platz. Nachbarschaften arten da und dort aber auch zu längeren Streitigkeiten aus und an anderen Orten ist die Nachbarin oder der Nachbar einfach ein Anonymus. Die Gründe und Ursachen für das nachbarschaftliche Verhalten, in welcher Ausrichtung auch immer, sind sehr vielfältig. Eine neue Studie vom Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) beinhaltet keine sofort umsetzbare Lösungen, aber sie teilt Herr und Frau Schweizer in vier Gruppen ein. So kann man die Nachbar*innen entsprechend einteilen und sich beruhigen oder gar ihrem Verhalten Verständnis entgegenbringen. Allerdings spannend wird es wohl erst, wenn man sich selber einer der Gruppen zuordnet.
Auf Distanz
Da wären einmal «Die Distanzierten», die 47 Prozent der Schweizer Bevölkerung ausmachen. Sie möchten am liebsten im eigenen Haus mit entsprechendem Abstand zum Nachbarn wohnen und wenn in einem Mehrfamilienhaus dann meiden sie den Gemeinschaftswaschraum und besitzen eine eigene Waschmaschine. Keinesfalls mögen sie unaufgefordert angesprochen zu werden – ein «Guten Tag» wäre schon grenzwertig. Für sie ist die Selbsthilfe in allen Fällen prioritär, sind aber im Notfall zur Stelle.
Nachbarsfamilie ist Ersatzfamilie
Ganz diametral zu den Distanzierten sind «Die Beziehungspflegenden» (14 Prozent), denn für sie sollte die Nachbarin oder der Nachbar der beste Freund sein und in der Nachbarsfamilie sieht man gleich eine Ersatzfamilie. Für die Beziehungspflegenden gehören ein enger Kontakt und gemeinsame Dinge wie Grillabende, Hausfeste und Flohmarkt zu einer guten Nachbarschaft. So wissen sie auch, wer gerne Mittagsschlaf hält und hat keine Mühe, wenn es am Wochenende etwas laut wird. Für die Beziehungspflegenden ist das Ausleihen der Bohrmaschine oder des fehlenden Mehls eine Selbstverständlichkeit. Dieser Typus möchte möglichst homogen in einem Milieu mit ähnlichen Interessen und Werten wohnen.
Respekt, Toleranz, Solidarität
30 Prozent der Bevölkerung machen die «Die Inspirationssuchenden» aus, die in einer durchmischten Nachbarschaft wohnen wollen. Sie begegnen den Nachbar*innen mit Respekt, Toleranz und Solidarität, wollen aber inspiriert werden und setzen am liebsten gemeinsam Projekte um wie einen Spielplatz bauen oder einen Garten anlegen. Dieser Nachbarschafts-Typus treffe man am häufigsten in grösseren Mehrfamilienhäuser an, hält die Studie fest. Da sei aber erlaubt einzufügen, dass sich in unzähligen Mehrfamilienhäusern alleine die Nutzung des Waschmaschinenraumes ein sich ständig wiederholender Konfliktort ist. Daher besitzen wohl die Distanzierten auch in Mehrfamilienhäuser eine eigene Waschmaschine, damit sie das Distanziertsein nicht aufgeben müssen.
Nähe verbunden mit Distanz
Bevor sich «Die Wertorientierten» (10 Prozent) ein zu Hause suchen, klären sie zuerst ab, wer im gleichen Haus und in der Umgebung wohnt, denn sie wollen unter Gleichgesinnten mit ähnlichen Werten und Ansichten leben. Ein kurzer Schwatz im Alltag reicht ihnen, sind aber selbstverständlich da, wenn ihre Hilfsbereitschaft gefordert ist. Sie neigen wohl dazu den «Foifer und s'Weggli» zu beanspruchen, denn so viel Nähe wie die Beziehungspflegenden wollen sie nicht, aber auch nicht so viel Abstand wie die Distanzierten – das Credo der Wertorientieren ist eine respektvolle und freundliche Distanz.
Die GDI-Studie macht deutlich, dass die sich nach aussen als offen und tolerant gebende Schweizer Bevölkerung eigentlich sehr auf Distanz lebt und so die Gesellschaft mitgestaltet. Die GDI-Studie zeigt, dass man in der Schweiz ein eher distanziertes Verhältnis zur Nachbarschaft pflegt. Es sind gerade einmal nur 12 Prozent der in der Studie Befragten, die ihre Nachbar*innen «sehr gut» kennen und 23 Prozent aller Befragten kennt die Nachbarschaft überhaupt nicht.
Redaktion
13. August 2022
Bild: Richard Wurz
Literaturquelle: «Hallo Nachbar*in. Die grosse Schweizer Nachbarschaftsstudie» der Gottlieb Duttweiler Institute (GDI). Weitere Informationen unter www.gdi.ch/