«Tauet, Himmel, den Gerechten, Wolken, regnet ihn herab.»
Immer wenn ich über den Klausenpass fahre, geht mir dieses Adventlied durch den Kopf. Ich habe sie nie vergessen, die schöne Melodie mit dem geheimnisvollen Text. Schliesslich haben wir das Lied als Kinder – an die 70 Jahre sind es her – unzählige Mal gesungen. In Adventsandachten in der Kirche oder zuhause am Stubentisch. Die Adventszeit war etwas Besonderes, verknüpft mit einer sich täglich steigernden Vorfreude auf Weihnachten. Bräuche gaben der Zeit auch im Alltag ein Gesicht. Zeltli oder Chröömli, die man beim Posten (gemeint ist das Einkaufen) erhielt, wanderten in eine Büchse,. Dort blieben sie bis an Weihnachten. Gute Taten wurden mit einem Wollfaden belohnt, der an Weihnachten in die Krippe gelegt wurde, damit das Jesuskind weich liegen konnte. Gelegentlich fand sich ein Goldfaden auf dem Balkon, den ein Engel verloren hatte. Dazu abends die speziellen Lieder, gesungen im flackernden Licht einer kleinen Kerze: «Es flog ein Täublein weisse», «O Heiland, reiss die Himmel auf» oder eben «Tauet, Himmel, den Gerechten».
Was das Wort «tauet» bedeutete, wusste ich lange nicht. War auch nicht nötig. Es klang geheimnisvoll, fast wie ein Zauberspruch, und passte deshalb in die ebenso geheimnisvolle Adventszeit. Irgendwann im Laufe der Jahre entdeckte ich den Sinn des Wortes. Und noch später begriff ich, dass es eine dieser feierlichen, mit einem e erweiterten Befehlsformen war, wie sie nur noch in der Kirche zu hören sind: «Erhebet die Herzen!», «Lasset uns beten!» – oder eben auf weissen Tafeln entlang der Strasse auf dem Urner Boden: «Autofahrer, schonet das Weidland!»
Lorenz Stäger
Autor, Wohlen
8. Dezember 2018
Bild: zVg