Armut?
Ja, sie ist wieder da, die Zeit in der tagtäglich Bettelbriefe ins Haus flattern und man die Missstände und vor allem Armut auf der ganzen Welt vor die Augen geführt bekommt.
Einmal im Jahr, so denken sich viele soziale Institutionen, sollte mann und frau sich doch etwas grosszügig zeigen und für einen guten Zweck spenden. Das sollte einem doch wenigstens einmal im Jahr und gerade zur Zeit von Weihnachten und dem Fest der Liebe nicht besonders schwer fallen. So kann man sich Jahr für Jahr aussuchen, wie man sein «schlechtes Gewissen» beruhigen möchte und wo man sich denn mal von seiner «grosszügigen» Seite zu zeigen vermag. Einfach einzahlen und damit ist die Sache getan. Man hat seinen Zweck erfüllt, das Geld ist weg und ganz bestimmt geht es jetzt den Menschen irgendwo auf der Welt für einen unbestimmten Zeitraum etwas besser. Denken Sie jetzt werte Leserschaft nicht, dass ich mich über diese Methode lustig machen möchte oder gar, dass ich nicht auch zu diesen Leuten gehöre, die seit einigen Jahren immer rechtzeitig auf Weihnachten den einen oder anderen Bettelbrief auf die Seite lege und bei den nächsten Einzahlungen hervor krame und etwas einzahle. Es gibt ja schliesslich eine ganze Menge unterschiedlicher Institutionen, die sicherlich alle ihre Berechtigung haben und da findet man bestimmt auch diejenige, die zu einem passt.
Doch eigentlich wollte ich an dieser Stelle von Armut sprechen. Armut, die es doch tatsächlich auch in unserem Land gibt. Ja, auch das hat sich längst herumgesprochen werte Leserschaft, mögen sie mir an dieser Stelle berechtigterweise zurufen.
Doch Armut, kann ich Ihnen entgegnen, ist nicht immer einfach sichtbar. Armut ist auch dann, wenn in einer Familie beide Elternteile arbeiten gehen und trotzdem am Ende des Monats das Mittagessen aus einer Scheibe Brot oder aus Nudeln mit Ketchup besteht. Ob das satt macht? Ich kann es leider nicht beurteilen. Armut ist nach meiner Meinung aber auch dann, wenn man nur noch stundenlang in den Bildschirm starrt, und dies die einzige Art des Vergnügens ist, weil man sich alles andere, wie einen Zoobesuch oder einen Ausflug in die Berge nicht leisten kann. Armut hat viele Gesichter und ist manchmal ganz schön schwer zu beurteilen. Auch betrifft Armut nicht einfach Familien oder Alleinerziehende. Armut betrifft auch ältere Menschen und diese Armut zu sehen ist dann noch viel schwieriger. Wer merkt schon, dass die ältere Dame oder der ältere Mann nicht mehr aus dem Haus geht, dass er im Haus mehrere Kleidungsschichten trägt, um Heizung zu sparen, oder früh zu Bett geht, damit er oder sie kein Licht braucht? Es ist so eine verflixte Sache mit dieser Armut.
Man kann sie gut kaschieren und lassen Sie sich das gesagt sein: In unserer «reichen» Schweiz wird man geschickt im Kaschieren, denn es darf ja schliesslich nicht sein, dass man hier arm ist.
Bettina Leemann
20. November 2018
Bild: Bettina Leemann