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Die Karwoche und die Ostertage sind die Zeit des Abschieds, des Tods und des Aufbruchs. Halten wir uns doch unabhängig religiösem Denkens an den Aufbruch.


home ostern legende frauenVor einem Jahr hat eine Zeitepoche begonnen, welche unsere Gesellschaft und unser soziales Denken und Handeln durcheinander wirbelte und das Covid-19-Virus liegt trotz frühlingshaftem Wetter immer noch wie eine Nebeldecke über uns und beeinflusst das Alltagsleben. Diese Zeit erinnert mich an die norwegische Legende «Zwei alte Frauen» der Schriftstellerin Velma Wallis (*1963). Es ist eine alte Überlieferung aus dem Volk der Gwich'in, einem am Polarkreis in Alaska beheimateten Stamm der Athabaska. Sie schrieb diese Geschichte, die ins 19. Jahrhundert zurückgeht und über viele Generationen mündlich weitergegebene Legende im Jahre 1993 auf.

… und letztlich sich selbst überlassen
Wir haben erst einen Sommer der Pandemiezeit verbracht und empfinden das bereits als eine überaus erschwerende Zeit. Wie muss es damals gewesen sein, erzählt doch die Legende von den beiden Frauen, der 80-jährigen Sa' und der 75-jährigen Ch'idzigyaak, die selber schon acht Sommer in schwierigen Verhältnissen erlebt hatten und dann von ihrem Stamm auf der Wanderschaft alleine zurückgelassen wurden, obwohl sie noch laufen, sehen, sprechen und mitarbeiten konnten. Dies weil eine Hungersnot ausgebrochen war und die Fortsetzung der Wanderschaft in der herrschenden Kälte schwierig wurde. So erklärte der Häuptling: «Der Rat und ich sind zu einer Entscheidung gelangt. Wir werden die Alten zurücklassen müssen.»

Die beiden alten Frauen mussten das zur Kenntnis nehmen und sich damit abfinden. Sie beschlossen aber, dass der Zeitpunkt des Abschieds von dieser Welt für sie noch nicht gekommen sei – und liessen es nicht zu, als alt und nutzlos betrachtet zu werden, sondern beharrten auf ihrem Recht zu leben. Sie waren überzeugt, dass sie sterben würden, wenn sie einfach vor Ort sitzen und warten würden. So beschlossen sie, nachdem sie Wut und Trauer überwunden hatten, entgegen ihren bisherigen Gewohnheiten einfach zu wehklagen und das Leben zu bejammern, vielmehr den Kampf ums Überleben aufzunehmen. Sa' forderte Ch'idzigyaak dazu auf, wenn schon, dann «wollen wir handelnd sterben und nicht im Sitzen».

Sa' und Ch'idzigyaak erinnerten sich an ihre in der Jugend geübten Fähigkeiten wie das Jagen, das Fallenstellen und das Herstellen von Schneeschuhen und entdeckten Neues bisher Unbekanntes, das zum Überleben beitrug. So entwickelten sie einen Mut und ein Durchhaltevermögen und lernten einen vernünftigen Umgang mit der eigenen Gebrechlichkeit und beschränkten Energie.

Es entstand Achtung voreinander
Die beiden Frauen kannten sich als Nachbarinnen, die sich an den schlechten Angewohnheiten der anderen und ihrem ewigen Jammern ergötzten und sich miteinander über unwichtige Dinge unterhielten. Jetzt waren aber das grausame Schicksal und das Alter das Einzige, was sie verband. Und sie wussten nicht, wie sie als Gefährtinnen auf dieser qualvollen Reise freundschaftlich miteinander sprechen sollten, denn jede hing ihren eigenen Gedanken nach. Doch nach acht Tagen fanden sie einen Platz, wo sie bleiben konnten und an den langen Abenden machten die beiden Frauen eine Ausnahme und redeten miteinander. Und aus Nachbarinnen wurden Freundinnen. Was aussichtslos schien, gelang, und als jede von der vergangenen Not der anderen erfuhr, entwickelte sich Respekt voreinander. Mit grosser Vorsicht und auf Umwegen wurde den beiden Frauen eine Annäherung und ein Zusammenleben auf einer neuen Basis möglich, gegründet auf eine vorher nicht dagewesene Achtung und Achtsamkeit.

So überstanden die beiden Frauen wider allem Vorsehen den Winter nach aussen und zwischen sich siegreich. Der Häuptling verlieh, nachdem man wieder vereinigt war, den Frauen Ehrenpositionen in der Gruppe. Sa' und Ch'idzigyaak lehnten diesen übertriebenen Beistand aber ab und genossen die neugewonnene Unabhängigkeit. Die Autorin Velma Wallis brachte es so auf den Punkt: «Diese Geschichte hat mich gelehrt, dass den eigenen Fähigkeiten keine Grenzen gesetzt sind, wenn es darum geht, das im Leben zu vollbringen, was man muss.»

Richard Wurz
4. April 2021
Bild: Richard Wurz – Zeichnung von Christina Blatter


Das Buch «Zwei alte Frauen» von Velma Wallis ist im Buchhandel erhältlich.

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